Norbert Lange

FORTGESETZTE QUELLENKUNDE

Quellenkunde. Der Gedanke, daß Geschriebenes auf Geschriebenes zurückführt, ist nicht neu. Und obwohl der damit verbundene Begriff von Schreiben nun eigentlich zu den Basics gehört, will ich hier noch einmal darauf zurückkommen. Quellenkunde setzt ein, wenn ich das Gedicht eines anderen lese, Quellenkunde setzt aber auch ein, wenn ich mich mit meinem eigenen Gedicht auseinandersetze, um es fertigzustellen. Spreche ich von Fertigstellung, dann zielt der dichterische Begriff auf eine Arbeit, in der Wissen und Intuition austariert werden müssen. Ich kann kein Gedicht schreiben, dessen Verlauf in erster Linie die Intuition bestimmt, da sich dabei formale, für mich typische Klischees aufdrängen – Strophenform, Zeilenlänge, klangliche und grammatische Eigenschaften. Ebensowenig kann ich mich rein von meinen Verstand leiten lassen, da ich dabei zu einer Form gelange, die ich inhaltlich nicht mehr einlösen kann – das dabei Entstehende könnte man sich als Gebilde vorstellen, das die Zeilen mit Recherche füllt. Mit Recherche kommt Quellenkunde gleich wieder ins Spiel. Denn man muss sich Quellenkunde inhaltlich und formal unterteilt vorstellen; in das nämlich, was ein Dichter von einem anderen an Idee und Weltauffassung übernimmt, und in die Art und Weise wie sich der Dichter zu den Mitteln verhält, die sein Vorbild verwendet, um diese Ideen auszusprechen. Der von mir sehr geschätzte Urs Allemann beispielsweise schreibt „Hälfte des Lebens“ neu, indem er jedes Wort der Vorlage durch einen Reim ersetzt, und kommt von „Im Winde klirren die Fahnen“ zu „im kinde schwirren die ahnen“. Das ist ein denkbar einfaches Verfahren, und wie ich finde an Anschaulichkeit kaum zu überbieten, es steht hier als Referenz an eine Art des Schreibens, die mich beim Schreiben und Lesen besonders beschäftigt. Zuletzt geht es eben um die Frage, was ein Gedicht ist und welche Möglichkeiten ihm innewohnen, wie also im Winde die Fahnen klirren, aber auch von wo das Gedicht die Möglichkeiten hernimmt, um im Kinde Ahnen schwirren zu lassen. Gleichzeitig führt dieses kurze Vexierspiel von Original und Anverwandlung auf die Fährte, die ich hier einschlagen will; wenn das Schreiben eines Gedichts sich stets auf Quellen stützt, wozu auch solche gehören können, über die ich mir nicht unmittelbar bewusst bin, lässt sich davon ausgehen, daß man es bei einem Gedicht immer mit einem Palimpsest zu tun hat.

Ums Palimpsest geht es, da die Frage nach dem Gedicht und seinen Möglichkeiten unmittelbar mit der Tätigkeit des Schreibens zusammenhängt. Die Antwort auf diese Frage wäre also nicht vorangestellt, sondern in den Entstehungsprozess des Gedichts verlegt. Nicht ein Muster, für das ich mich im Vorfeld entschieden habe und der damit schon implizierte Inhalt, machen das Gedicht, sondern Schreiben und Lesen – die für mich eine Tätigkeit sind – reagieren auf das, was als Struktur und weltanschauliches Modell schrittweise auf dem Papier in Erscheinung tritt. Dadurch werden die Prämissen des Gedichts während des Schreibens einer dauernden Befragung und Modifikation unterworfen, und die Frage, was ein Gedicht ist und was seine Möglichkeiten, im Schreiben wieder und wieder beantwortet und aufs Neue gestellt. Gedichte nehmen eine Position ein, sie sind – wie es bei Reinhard Priessnitz heißt – die Gestik einer Geisteshaltung zur Sprache und zum Bewusstsein. Sie sagen daher oft mehr aus über die Welt oder wie sie sein sollte, als dem Dichter manchmal lieb sein kann. Was sich jenseits der Materialebene an einem Gedicht exemplifizieren lässt, ist das im Schreiben begriffene Bewusstsein, auch ausserhalb der Literatur, das sich in den Text einschreibt durch die Wiedergabe von Wissen und von Gebräuchen und wie sich der Autor dazu verhält. Ganz allmählich wird die Liste der Namen länger, denn ich finde denselben Gedanken bei August Schlegel so formuliert wieder: „Die Sprache ist kein Produkt der Natur, sondern ein Abdruck des menschlichen Geistes, der darin die Entstehung und Verwandtschaft seiner Vorstellungen und den ganzen Mechanismus seiner Operationen niederlegt. Es wird also in der Poesie schon Gebildetes wieder gebildet; und die Bildsamkeit ihres Organs ist ebenso grenzenlos als die Fähigkeiten des Geistes zur Rückkehr auf sich selbst durch immer höhere potenziertere Reflexionen.“ Gleichwohl ist damit kein Imperativ gesetzt, Fehler zu vermeiden, im Gegenteil wird für mich dadurch die Lust geweckt, Fehler autopoetisch einzusetzen, um Schieflagen zu erzeugen. Wenn die zur Verfügung stehenden Modelle von Gedichten füreinander durchlässig sind, Schnittmengen bilden und sich überlappen können, dann gilt gleiches für die mit ihnen einhergehenden Aussagen; es ist daher mindestens genauso reizvoll, sich mit ihren Widersprüchen zu befassen, sie gegeneinander auszuspielen, wie sich mit ihren Übereinstimmungen zu beschäftigen und damit eine Aussage zu verstärken.
Meine Denkprozesse müssten also anhand des Gedichts und seiner Zwischenstufen nachvollziehbar sein können, und im Gegenzug stellte das fertige Gedicht den vorläufigen Endpunkt des Prozesses dar – es stünde mir immer noch offen weiterzuschreiben. Schicht für Schicht lagern sich in den Text die Arbeitsschritte ab, wird gelöscht – denn ich arbeite, wie die meisten wahrscheinlich, am Computer – wird neu geschrieben, überschrieben, erweitert, ausgesondert usw. Allein des Schreibens am Rechner wegen, läge die Bezeichnung eines solchen Arbeitens als Palimpsest nah, copy and paste? Allerdings stellt die Möglichkeit, Arbeitsschritte rückgängig zu machen und auf dem Monitor den vorherigen Stand wieder erscheinen zu lassen, noch keine Quellenkunde dar. Ich muss mir über die Quellen und das Material im Klaren sein und eine Kontrolle über ihre Verarbeitungsschritte anstreben. Trotzdem wird diese Kontrolle nur relativ sein, da die Arten des Zugriffs auf fremden Text und auf Fremdmaterial – Übersetzung, Kontrafaktur, Pastiche, Parodie, Collage oder Remix – an einem bestimmten Punkt die Quellen fast zwangsläufig bis zur Unkenntlichkeit vermischen. Möglicherweise darf man darin aber auch den Moment sehen, an dem das Gedicht zu etwas eigenem wird.
Ich spreche hier so selbstverständlich von Quellen, als kämen für mich dabei nur Texte, Gedichte, Zitate oder Umgangssprache in Frage. Dabei kann alles erdenkliche zur Quelle werden – denn es ist für die Quellenkunde vor allem wichtig, auf welche Weise etwas ins Gedicht kommt. Daß Dichter Bilder betexten, Fotos oder Malerei ist keine Seltenheit. Wahrscheinlich ist das Gemäldegedicht sogar eine der kanonisierteren Formen von Anverwandlung, da sich Dichter vom Barock ausgehend über die Romantik, bis zur heutigen Zeit regelmässig darin versucht haben und versuchen. Vereinfacht gesagt, wird mit dem Gemäldegedicht die Wirkung eines Bilds von seinem Betrachter in Versen wiedergegeben. Doch stellt die Signatur der jeweiligen Epoche den Blick von Fall zu Fall unterschiedlich ein. In der Romantik etwa erweist das Gemäldegedicht dem Maler, seinem Bild und dem Sujet, die Referenz und „beweiset auf diesem Wege der Mahlerey seine Dankbarkeit.“ Das Wesen romantischer Dichtkunst mit Blick auf das Gemälde wäre mit August Schlegel gesprochen also eine Form der Ehrerbietung, die dichterisch versucht, ihre Ergriffenheit angesichts des Bilds per Gedicht zu vermitteln. Fluchtpunkt dieses Vorgehens wäre das ergriffene Subjekt und seine Perspektive eine emotionale, was daraus folgt Gedichte, die sich wie Sprechblasen oder wie Bildunterschriften ausmachen. Vom barocken Gemäldegedicht kommend – wie zuletzt Thomas Kling in „Auswertung der Flugdaten“ –, lässt sich eine zweite, verschiedene Definition der Gattung formulieren: Ein ästhetisches Interesse, das in der Art, wie Gemälde gemacht werden, die Analogie zu seiner eigenen Arbeitsweise zieht und sich am Bild entzündet. Das Dargestellte mag mich zwar berühren, doch seine Ausführung kann mich mit einer ungleich höheren Intensität treffen, so daß mein Augenmerk allein auf einem Detail oder einer Nuance beruht und die übrigen Teile des Bilds und ihre Würdigung davon abhängen. Demnach wäre das Gemäldegedicht ein Gedicht, das durch die Anschauung des Dargestellten und der Darstellung versucht, die Theorie und Praxis seiner eigenen Bilderzeugung anhand des Gemäldes wiederzugeben.
So gesehen liesse sich sogar Film noch, als sukzessive Bildfolge nach Schnitt und Montage, als bildmalerisches Verfahren für das Gedicht als Vorlage begreifen. Nicht zuletzt ist auch die Bildgeschichte – der Comic – über das Daumenkino mit dem Film verwandt, eine Art Malerei.
Der kunstgeschichtliche Begriff der Untermalung – also das, was unter dem Gemälde mit Kohle skizziert worden ist, oder schon mit Farbe bemalt und später übermalen, und das Schicht für Schicht mittels technischer Verfahren (Röntgenanalyse) auf Fotografien wieder sichtbar gemacht werden kann, mag für Quellenkunde daher eine ganz passende Analogie sein. Das dafür stellvertretende Stichwort aber ist Palimpsest.

Trotzdem besteht beim Palimpsest immer ein bestimmtes Materialinteresse, das über den bloßen Spieltrieb mit dichterischen Modellen und Quellenmaterial hinausweist. War bei Schlegel die Autonomie des Subjekts sicher und Sprache das, „wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt“, eine Vermittlerin des Bewusstseins, so gilt bei Priessnitz der entscheidende Unterschied, daß Sprache nicht etwas ist, über das ein Subjekt ohne weiteres verfügt, stattdessen ein Fluidum, in dem es sich orientieren und behaupten muss. Worin bestünde dann Autonomie? In einer metaphysischen Konstante beim Schreiben? Für jemanden wie Johann Georg Hamann müsste Sprache mit Geschichte in einem Atemzug gedacht werden, als ein in sich geschlossenes System aus Vordeutungen und Rückbezügen. Nur ist fraglich, ob wir noch heute davon ausgehen können, da Geschichte und Sprache eher offene Formen zu sein scheinen, Rhizomstrukturen, für die die Geschichtsklitterung Pate steht, in deren Zentrum das Subjekt versucht den Überblick zu behalten, wenn wir uns mit Tradition, zumal literarischer befassen. Trotzdem liegt in einem typologischen Geschichtsverständnis wie bei Hamann der besondere Reiz, die Quellen nicht als bloße Hinweise auf neue Gedichte zu verstehen, sondern umgekehrt ein neues Gedicht als rückbezügliche Neuschreibung seiner Quellen zu betrachten. Auf diese Weise gesehen, würden die Quellen soweit für Interpretationen freigemacht, daß man meinen könnte, es mit völlig anderen, neuen Gedichten zu tun zu haben. Damit wären die Hintergrundkoordinaten benannt. Doch an dieser Stelle wird das spekulative Fenster vorerst geschlossen.

Was ich als Work in Progress „Kunstkammer“ betitelt habe, beschreibt den Versuch, Gedichte beim Schreiben zu verstehen – diese Prozesse lassen sich kaum in der Sprache des fertigen Gedichts transparent machen („fertig“, abgeschlossen sowohl als auch „Karren an die Wand gefahren“) – dabei greife ich auf alles, was mir zwischen die Finger kommt zurück; digitale Textsammlungen, Filme, Photographien, Bilder überhaupt, Comics oder – eben – auch fremde wie eigene Gedichte.
Ob es sich dabei um ein Großprojekt handelt wie Czernins Kunst des Dichtens oder Stolterfohts Fachsprachen oder ein Begriffsstudio oder ein Zeughaus, das Exponate aus der Geschichte des Gedichts versammelt, möchte ich nicht beurteilen müssen. Im Zweifelsfall – und das wäre für mich einer – ist „Kunstkammer“ mein „le livre“, also ein Konzept, dass sich weiter von mir entfernt, je näher ich ihm kommen möchte, indem ich versuche das alles konzeptuell zusammenzufassen. Bei Goethes Sekretär Eckermann lese ich, 18.September 1823: „Welche Anstrengung und Verwendung von Geisteskraft gehört nicht dazu, um nur ein großes Ganzes in sich zu ordnen und abzurunden, und welche Kräfte und welche ruhige ungestörte Lage im Leben, um es dann in einem Fluß gehörig auszusprechen. Hat man sich nun im Ganzen vergriffen, so ist alle Mühe verloren; ist man ferner, bei einem so umfangreichen Gegenstande, in einzelnen Teilen nicht völlig Herr seines Stoffes, so wird das Ganze stellenweise mangelhaft werden und man wird gescholten; und aus allem entspringt für den Dichter, statt Belohnung und Freude für so viele Mühe und Aufopferung, nichts als Unbehagen und Lähmung der Kräfte.“ Dass der Plan eines Gedichtbuchs das motivische Feld einschränkt und damit auch zu einer Einschränkung des imaginären Raums führt, das leuchtet mir ein. Und je mehr ich versuche, „Kunstkammer“ autopoetologisch abzurunden, umso eckiger, spitzer und demolierter fällt der Gesamteindruck aus. Denn das Schöne – wenn ich diese Floskel hier verwenden darf – verlangt als letzte wichtigste Probe die Zerstörung seiner selbst.