Marcel Raabe

Mythos Mythos Dresden. Anmerkungen zur Anatomie einer Stadt

Vom Gorbitzer Westhang aus blickt man über die Lichtpunktzeilen des jüngsten Dresdner Plattenbaugebietes auf Rathausturm und Kraftwerksschornstein der Innenstadt. Gab es hier schon Knutschfelsen, bevor im Sommer 1989 dank einer Satellitenschüssel – ein Geschenk der westdeutschen Partnerstadt Hamburg – amerikanische Fernsehserien die urbane Landschaft neu kartographierten? Auf dem bestrüppten Grünstreifen eines Kundenparkplatzes jedenfalls, die Verkaufsräume und Lagerhallen von Sanitär Heinze im Rücken, harrte man fortan der sich recht mühsam durch die Dunstglocke arbeitenden Sonne.

Da war viel Zeit für Pathos. Hier oben lief Dresden, nach dem letzten sozialistisch-urbanen Aufbäumen der vier Wohnkomplexe des WBS-70-Viertels Gorbitz, in dörfliches Gelände aus. Die nächtliche Stadt lag als Kessel unter den Füßen. An den Rändern bildeten die Autobahnen Ketten pulsierender Lichter, blinkten Fernsehturm und Industrieschornsteine rot, und auf der anderen Seite, hinter dem gegenüberliegenden Hang, schimmerte das grelle Licht des Flughafens Klotzsche noch als Grauschleier über die Kante.

Der Knutschfelsen lag in der Einflugschneise. Zwischen jugendlichem Hang zur Dramatik und heimlichen Zerstörungsphantasien richteten sich die Nackenhaare auf, wenn in den Höfen hinter Sanitär Heinze plötzlich die Hunde anschlugen, von Ferne eine Dorfsirene herüberwehte und das Dröhnen einer reinkommenden Maschine nahte.

Ruinen, Baustellen

Was die Liebenden auf die Hügel lockt, ist trotz des Kitschverdachts die sinnliche Erfahrung der Erhabenheit. Von oben ist die Stadt als Landschaft zu erfassen. Sie wird als solche sichtbar: Auch die urbane Landschaft ist etwas Gewachsenes. Sie wurde zwar »gemacht«, geplant, führt jedoch ein Eigenleben, wächst und stirbt, ohne dass der einzelne Mensch, und stünde er einer noch so mächtigen Behörde vor, lenkenden Einfluss darauf hätte. Die Kräfte, die über Auf- und Niedergang entscheiden – in den schrumpfenden Städten Ostdeutschlands, den entvölkerten Landstrichen ganzer Transitregionen oder den boomenden Reißbrettstädten Chinas – sind bestimmbar, punktuell beeinflussbar, aber kaum zu kontrollieren. Die Mechanismen haben Ursachen, doch sie vollziehen sich weitgehend autonom.

Im Februar 2006, am Wochenende vor dem Jahrestag der Kriegszerstörung, ziehen in Dresden diverse unversöhnliche Demonstrationszüge aneinander vorbei, zum Teil von Polizeikräften gegeneinander abgeschirmt. In Sichtweite drehen die Gruppen in unterschiedliche Richtungen ihre Runden: die offizielle Gedenkdemonstration der Bürger und der Stadträte; die Nazidemo, die das Gedenken okkupieren will, und die lautstarke Gegendemonstration. In diese schließlich mischt sich die Gruppe der Antideutschen, die mit Stars-and-Stripes-Bannern die Zerstörung explizit begrüßt und sich mit Israelfahnen im bald darauf eskalierenden Israelisch-Libanesischen Konflikt positioniert. Das ist der Punkt, an dem man erst einmal nach Hause nachgoogeln gehen muss.

Dresden ist ein ideologisches Schlachtfeld, auf dem die Stadtarchitekturen die Projektionsflächen der politischen Verhältnisse sind. Für jemanden, der hier aufgewachsen ist, war die Zerstörung, auch jenseits der noch sichtbaren Ruinenbrachen, omnipräsent: in Bildern, Schulaufsätzen, Gedenkappellen, dem jährlichen Kirchenglockenleuten, in der zum Mahnmal geweihten Frauenkirchenruine. Bis in die späten 80er Jahre bestanden ganze Innenstadtquartiere aus blickdichten Holzwänden, hinter denen man auf der Prager Straße, dem Platz der Einheit und der Straße der Befreiung am »neuen Dresden« schraubte.

So war dann, im Kontext spezifischer Bedingungen der DDR, das Leben eng an Architekturfragen geknüpft. Ein Gutteil der 70er-, 80er-Jahrgänge zog als Kind aus unsaniertem Altbau mit Außenklo und undichten Dächern auf die Baustelle eines Neubaugebietes. Entscheidende biographische Initiationen fanden dort auf Schlammhügeln zwischen unfertigen Häuserblocks und Baukränen unter taghellen Nachtstrahlern statt. Wenig später legten die Einwohner, die es sich leisten konnten, ihre Blocks de facto auf die Seite und bezogen explosionsartig ins Feld schießende, nicht minder enge Eigenheimquadranten. Das Neubaugebiet blieb als halb leerstehende Problemzone und »sozialer Brennpunkt« im Gespräch. Gleichzeitig hoben in der Innenstadt die Diskussionen um den Umgang mit nun frei gewordenen Bebauungsflächen an. Bald darauf war zu verteidigen, was die DDR an architektonischer Moderne hinterlassen hat. Inzwischen scheint das Selbstverständnis Dresdens irgendwo zwischen touristischem Disneyland und phönixhaftem Konservatismus festgeklopft.

Yadegar Asisis Riesenpanoramabild 1756 Dresden, das im städtischen Gasometer den Stadtrundblick des 18. Jahrhunderts rekonstruiert, ist vielleicht das deutlichste Symptom des bis heute nachwirkenden Phantomschmerzes: »Entdecken Sie den Mythos des barocken Dresden als Panorama auf 360°!« Hier ist die Schnittstelle zwischen tatsächlich gebauter Architektur und der erzählten Stadt. Denn eine Stadt besteht nicht nur aus Gebäuden und technischen Strukturen, sondern auch aus ihren Geschichten. Nichtmaterielles, Erzählungen bestimmen die Wirklichkeitsdeutung an einem Ort entscheidend mit: Erinnerungsgerüste, die zudem äußerst fluide sind. Aus ihnen speisen sich die Identitäten einer Stadt. Dresden ist dafür ein Modellfall. Die hier gefochtenen Schlachten der Bürgerinitiativen um Gebäude und Fassaden, Denkmäler und Brücken sind aber auch Indiz dafür, dass die immateriellen Erscheinungen jenseits bloßer Architekturprogramme auf das Manifeste, Materielle, die Gebäude und Strukturen zurückwirken. Das, was als »Dresden« vor uns steht, ist ein Bild, eine Imagination, die sich aus den Fragmenten heterogener Wirklichkeitsdeutungen und historischer Umbrüche zusammensetzt.

Namen, Traumwelten

Die wiederkehrenden historischen Läuterungen beginnen mit der Umbenennung der Straßen und der Plätze. Sie wird zu einem reinigenden Akt, mit dem man sich vom Erinnerungsdiktat überkommener Regime befreit. Doch wer gibt die neuen Namen und welche? In der Fülle, mit Abstand und abgeklungener Euphorie, schälen sich die nächsten Ideologien heraus, die ihrerseits nun Spuren hinterlassen, die vielleicht nicht zu vermeiden sind. Ein Name, die Taufe, »schreibt« ein Weltbild und -zustand ein, in Menschen wie in Straßen: ob christliche Vornamen oder muslimische, oder wenn Marcel und Mandy, so ein landläufiges Bonmot, unterdrücktes Fernweh spiegeln.

Mit den Namen der Hauptachsen und Plätze ist es die – offizielle – Erinnerungskultur einer Gesellschaft, die sich gitternetzartig über die Stadt legt. Die oft plötzlichen, aber schnell vergessenen Brüche treten wieder zutage, wenn man die Stadtpläne aus einem Jahrhundert vergleicht. Dem Illustrierten Führer durch die Hauptstadt Dresden aus der Reihe Woerl’s Reisehandbücher liegt 1936 ein kleines ergänzendes Zettelchen bei, das die gerade geänderten Straßennamen im angefügten Stadtplan korrigiert: Aus dem Theaterplatz wird der Adolf-Hitler-Platz, die Karl-Marx-Straße heißt nun Allfahrthstraße, der Strehlener Platz wird zum Horst-Wessel-Platz. Friedrich Engels, Friedrich Ebert und Ferdinand Lassalle weichen Casella, Crispi, Faust, und mitunter wird lediglich geglättet: die Fichtestraße wird zur Fichtenstraße, die Auerstraße zur Neubauerstraße, die Scheidemannstraße zur Scheidemantelstraße. Vielleicht wollte er seinen Mitbürgern bloß die Umgewöhnung leichter machen, doch man kommt nicht umhin, dem Wiedertäufer subversive Absicht zuzutrauen. Das Erscheinungsjahr ist lediglich von diesem Zettel zu erfahren, für das Büchlein selbst erscheint es unerheblich, obwohl ein Vorwort auf 1931 datiert. So schimmert aus dem Bedürfnis, den Zeitpunkt der »Berichtigungen zum Stadtplan« zu bezeichnen, schon die Ahnung ihrer Endlichkeit.

Die Stauffenbergallee in der Albertstadt begann ihre Karriere halb als Carola-Allee, halb als Prinz-Georg-Allee. Über den kurzen Umweg der unschuldigen Nordallee wurden die Teile 1950 zur Dr.-Kurt-Fischer-Allee vereinigt, welche sich 1991 zur heutigen Stauffenbergallee wandelte. Die feudale Erinnerungskultur des Adels verschob sich zugunsten eines Geschichtsbildes, das seine politische Legitimation aus dem kommunistischen Widerstand gegen das Dritte Reich bezog. Das folgende Geschichtsbild wiederum bemüht den national-konservativen Widerstand und schafft so nebenbei die Abgrenzung vom sozialistischen Regime. Die Namenspolitik auf dem Platze legt dabei eine wenig verdeckte Parallele zwischen den zwei Nachkriegsdeutschlands frei: Gemeinsam ist beiden das Bedürfnis, ihre Geschichte jeweils ihrem Selbstverständnis gemäß zu konstruieren, »einzuzeichnen«.

Carola war die Tochter eines ehemaligen schwedischen Kronprinzen und Gattin des nachmaligen Königs Albert I. von Sachsen, nach dem der ganze, als Militärkomplex errichtete Stadtteil heißt. In der hier angesiedelten Infanterie-Schule lernte auch der junge Offiziersanwärter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, post mortem zu höchsten bundesrepublikanischen Ehren gekommener Hitler-Attentäter. Auf ihm fußt das gute Gewissen des »anderen Deutschlands«, in ihm ist vielleicht der Gründungsmythos der BRD schlechthin verkörpert. Ohne historische Klitterungen und Blessuren freilich geht das nicht vonstatten. Stauffenberg war nicht eben der Demokratischste unter den Verschwörern, war an der Ausbildung von SA-Einheiten beteiligt, und es war eher militärisches Versagen des Regimes als moralische Skrupel gegen den deutschen Angriffskrieg, was ihn zur Intervention bewog. Mit der vielleicht etwas pedantischen Frage, inwieweit der Tyrannenmord als Identifikationschiffre für eine demokratische Gesellschaft überhaupt taugt, läuft man vermutlich schon Gefahr, Empörung auszulösen. Das ist der Mythos-Test. Was für die DDR ganz offen zutage liegt, wird in diesem Beispiel auch für die Bundesrepublik deutlich: An diesem Punkt wird Mythos zu Ideologie.

Auch Dr. Kurt Fischers Biographie ist reich an Abenteuern. Der junge Kommunist floh nach Beteiligung an bewaffneten Aufständen in Leuna zu Beginn der 20er Jahre in die Sowjetunion. Er studierte an der Militärakademie in Moskau und wurde Auslandsspion des sowjetischen Militärgeheimdienstes in Japan, Europa und China, wo er als Berater bis zu Mao vordrang. Nach Kriegsende kam er in die SBZ und wurde Stellvertreter des Dresdner Oberbürgermeisters Rudolf Friedrichs. Mit ihm geriet er arg in Zwist, worüber Friedrichs 1947 starb. Das brachte Fischer anhaltende Verdächtigungen ein, an dessen Tod nicht unbeteiligt gewesen zu sein. Fischer selbst starb drei Jahre später in einem Sanatorium des DDR-Innenministeriums, worauf man fragliche Allee nach ihm benannte. Vielleicht ist das ja auch was für Tom Cruise?

Jenseits des politischen Brimboriums, mit dem sich Umbenennungen solcherart mit Ministern, Blumen, Blaskapellen vollziehen, dominiert heute eine schleichende Umtaufe der Stadt. Vielfach werden schlicht die alten Namen wieder übernommen, was das Künstliche ins Natürliche zurückzusetzen scheint. Oft kommt es zu einer bloß philologischen Reinigung vom »sozialistischen Genitiv«, wenn die Brücke der Jugend, die Straße der Befreiung und der Platz der Bauarbeiter verschwinden müssen. Doch Sprache repräsentiert nicht nur, sondern schafft Realität, und die Sprache euphemistischen Fortschrittsoptimismus’, der Kult um das genuin Nicht-Kultische muten dann doch zu DDR-typisch an, um ideologisch unverdächtig zu bleiben.

Tiefgreifender ist eine weitere, besonders in der ehemaligen Residenzstadt Dresden zu beobachtende Erscheinung. Dem politischen Personenkult folgt, in Ermangelung anderer zeitgenössischer Mythologismen in der Postmoderne, der Rückgriff auf das glitzernde Davor: die Traum- und Märchenwelt der Prinzen und Prinzessinnen, deren Zeit weit genug zurückliegt, um keine ideologiekritischen Vorbehalte mehr auszulösen. Königstraße, Fürstenallee, Wettiner Platz. Das ehemalige Königspaar ist heute wieder präsent in Carolabrücke und Albertplatz, Carolaplatz und Albertbrücke. August der Starke verdrängte den bulgarischen Kommunisten Georgij Dimitroff (»...die mit droff und die mit droff...«) von der Augustusbrücke, obwohl es sich genaugenommen bei dem von 1907 bis 1910 u.a. von Wilhelm Kreis errichteten Bauwerk nicht um die Augustusbrücke selbst, sondern um deren Nachfolgebau namens Friedrich August handelt. Genausowenig wie an seinen oben erwähnten Widersacher Kurt Fischer erinnert keine Dr.-Rudolf-Friedrichs-Brücke mehr an den unter zweifelhaften Umständen dahingeschiedenen Dresdner Nachkriegsbürgermeister. Und wenngleich Carola ihre Allee nicht zurückbekam, so spricht aus den zahlreichen in Dresdner Stadtpläne zurückkehrenden Königinnen und Königen die Sehnsucht nach vermeintlich unbefleckter Erinnerung. Ihr entspricht die Hingabe an höfisch schillernde Wohnwelten, Barockfassaden und Lustspielgärten. Die Orte werden zu Sehnsuchtsorten, an denen man zur Wiederherstellung einer als heil erinnerten Vergangenheit drängt. So erscheinen auch vorgebliche »Fehler der Geschichte« durch Architektur korrigierbar. Der Abriss des Palastes der Republik in Berlin und die Diskussion über die Wiedererrichtung des Hohenzollernschen Stadtschlosses an dessen Stelle lassen den Konflikt zwischen den Identitäten und Generationen schmerzlich hervortreten und machen deutlich, wie sich die der Moderne innewohnende Verzweiflung über Vergänglichkeit und Wandel zumal in Deutschland umso enger an Gebäude heftet.

Die schleichende symbolische Durchdringung der Städte und Diskurse mit einer absolutistischen Traumwelt (»König Kurt«, »Kaiser Franz«) ist kein ostdeutsches Phänomen. Was mit dem Berliner Stadtschloss, so man es jemals baut, geschehen wird, kann man in Braunschweig besuchen: Dort wurde das 1960 als Ruine abgerissene Schloss als Kaufhausfassade wieder aufgebaut.

Die erzählte Stadt

Städte bestehen also nicht nur aus Gebäuden oder Denkmälern, deren Eigenart es ist, entgegen ihrer Bestimmung selten länger als wenige Jahrzehnte zum Erinnern aufzufordern. Ebenso ergeht es ihren Mythen, die durch Reiseführer und Schulstunden, Erinnerungstafeln und Anekdotenbüchlein wabern. Verbleiben Umbenennungen der Straßen noch im Zeichenhaft-Diffusen, so bedient sich das narrative Baugerüst der Stadt aus der kanonischen Literatur, in der sie Schauplatz ist. Es gibt damit mehr oder minder gesegnete Städte, und wenngleich Dresden kein Dresden Postplatz hat, so hat es doch Erich Kästners Als ich ein kleiner Junge war, E.T.A. Hoffmanns Goldenen Topf, Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas. Victor Klemperers Tagebücher 1933 – 1945 sind vielleicht am wichtigsten, weil in ihnen geschildert wird, wie der Bombenangriff die letzten Dresdner Juden vor der Deportation bewahrt. Jüngst gesellte sich als Buchpreisträger Uwe Tellkamps Roman Der Turm hinzu. Steinbrüche sind zudem Briefe sowie Tagebucheinträge durchreisender Geistesgrößen: Zu jedem Flecken findet sich sein Goethe-Schnipsel.

Stringentere, doch kurzlebigere Erzählungen der Städte entwerfen ihre Reiseführer. Sich voneinander abschreibend erschaffen sie ein natürlich scheinendes, in Wahrheit aber künstliches Gebilde. Ihre Quellen liegen in den literarischen Stadtgeschichten, der Tagespresse und den Werbeverlautbarungen der Touristenindustrie. Es ergibt sich eine narrative Gemengelage zwischen eben jenen heimeligen Autosuggestionen, die gerade aktuell sind, und den von den Sachzwängen und Planbilanzen der Tourismusbranche entworfenen »Selbst«bilder. Wohin das führen kann, davon legt der neue »historische« Neumarkt drolliges Zeugnis ab: die in Beton gegossene, zurückgespiegelte Fremdwahrnehmung schlechthin.

Doch wie die Straßennamen sind die Reiseführermythen wandelbare, flüssige Gedächtnisfelder. Wenn von der »sozialistischen Geschichte« die Rede ist, so ist nicht nur die Spanne 1949 – ’89 gemeint, sondern die Geschichte, die man in dieser Zeit erzählte. Die »sozialistische Geschichte« der Stadt strickt sich von der Entwicklung der lokalen Wirtschaft und der Arbeiterbewegung her, von der bürgerlichen und proletarischen Revolte. »Am 3. Mai [1849] schoß das Militär auf Arbeiter und Handwerker, die das Zeughaus stürmten, um sich zu bewaffnen. Das war das Signal zur allgemeinen Erhebung. Das Militär mußte am folgenden Tag die Stadt verlassen. Der Monarch und seine Minister flohen auf die Festung Königstein. [...] Auf der Seite des Volkes kämpften bekannte Künstler wie Wagner, Semper und die Schauspielerin Wilhelmine Schröder-Devrient sowie ausländische Revolutionäre, u.a. Bakunin. [...] Das Bürgertum in den benachbarten sächsischen Städten zögerte mit der Unterstützung für die Dresdner Barrikadenkämpfer. Zu den wenigen Gruppen, die bewaffnet nach Dresden kamen, gehörten aber Bergleute aus dem Plauenschen Grund.« Richard Wagner und Gottfried Semper, so der Tourist Stadtführer-Atlas Dresden 1985 weiter, glückte die Flucht ins Ausland, jedoch »der Opernkapellmeister August Röckel wurde über ein Jahrzehnt im Zuchthaus Waldheim eingekerkert.«

Im 1985er Reiseatlas sind weiterhin Karl Marx’ Besuche in der Stadt verzeichnet (1843 und 1874), ebenso der als Auswirkung der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« gedeutete Munitionsarbeiterstreik 1918, »an dem sich Arbeiter mehrerer großer Dresdner Betriebe [...] und der näheren Umgebung (Gußstahlhütte Döhlen) beteiligten.« In der Zeit der Weimarer Republik lieferten sich Arbeiter und reaktionäre Kräfte blutige Straßenschlachten, und am »Vorabend der faschistischen Machtübernahme verübte die Dresdner Polizei einen Feuerüberfall auf eine antifaschistische Kundgebung im Keglerheim, der neun Tote und 11 Schwerverletzte forderte. In einer machtvollen Demonstration ehrten am 31. Januar 1933 etwa 30.000 Arbeiter die Ermordeten und bekundeten damit ihre Kampfentschlossenheit.« Dresdens Geschichte zwischen 1933 und 1945 ist in diesem Buch die Geschichte seines Widerstandes gegen das NS-Regime. Die unglückliche Entwicklung mündet, darin sind sich alle folgenden Reiseführer einig, in Dresdens völliger Zerstörung, und die Nachkriegsgeschichte fokussiert den Wiederaufbau. Die Deutungen hängen dabei vom jeweils erreichten Aufbaustadium und der sich wandelnden gesellschaftlichen Perspektive ab.

Die trotzige Betonung der »schönen neuen Stadt« und der wirtschaftlichen Erfolge in den 70er und 80er Jahren erklärt sich nicht zuletzt aus dem Bewusstsein ästhetischer und wirtschaftlicher Defizite. »Dresden ist heute in der Welt bekannt durch seine Produktion hochwertiger Erzeugnisse an Kino- und Fotoapparaten, an Röntgengeräten und Transformatoren, an vollendeten Kunstdrucken, an Verpackungsmaschinen, an Turbinen, an Apparaten für Vakutronik usw. Die Industrie Dresdens ist im Rahmen des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus einer ständigen Weiterentwicklung unterworfen«, so ein Reiseführer durch die Deutsche Demokratische Republik 1962.

Max Zimmering dichtet 1969: »Hier wächst Elektronik,/da lächelt Barock,/dort grüßt eine Fahne/vom zwanzigsten Stock«, und der Erhabenheit der Höhe erliegt offenbar auch der Autor des Bildbandes Dresden in Farbe beim Blick vom Rathausturm um 1980: »Aber was sich von unten und aus allen Richtungen der Windrose hellglänzend in den Blick drängt, das sind die dominierenden Flächen, Linien und Punkte der neuen Bebauung einer alten Stadt. Akzente bilden die Hochhäuser. Aus dem Dunst der Ferne treten die Umrisse ganzer Stadtteile. Auf den südlichen Hängen unterbrechen, wie Zinnen einer Mauer, hohe Wohnbauten die Kante des Horizontes.« Beim Rundblick falle niemandem die Frage ein, »wo sind die Beamtenviertel, wo wohnen die Reichen, wo die Arbeiter? Auf so eine absurde Idee könnte nur einer kommen, der von Großstädten kapitalistischer Industrieländer diese räumlichen Gliederungen kennt – hier die Villen der Wohlhabenden, dort die Proletarierviertel.« Schließlich reißt er sich los »vom großartigen Rundblick über die Stadt, die sich in der weiten Schale des Elbtals über ihre alten Grenzen dehnt, ihre Neubauviertel wie Jahresringe um sich legend. [...] Über dem harmonischen Neben- und Ineinander von Alt und Neu ziehen Düsenjäger ihre weiße Spur.«

Aus der Sicht der Dresdner Punkband Paranoia war Dresden Ende der 70er hingegen »ein finsteres, konservatives Provinznest. Verfallende Häuser, Weltkriegsruinen, Neubaughettos, marode Fabriken, ungesunde Luft und quietschende Straßenbahnen. Dazu phlegmatische Kleinbürger, deren Lethargie als ‚sächsische Gemütlichkeit‘ gepriesen wurde.« Den illustren Gestalten sozialistischer Erinnerungskultur steht in diesem anderen Geschichtsbuch Hortel gegenüber, der zu Beginn der 80er Jahre, so Paranoia-Bassist Ronald Reagan, den ersten Irokesenhaarschnitt Dresdens trug. »Außer einigen Freejazzern gab es keine alternative Musikszene. Neben der breiten Mainstreammasse wurden jugendliche Subkulturen von Heavy-Metal-Prolls, Jesuslatschen-Hippies, Kunststudenten und Briefmarkensammlern gebildet.«

Ähnlich düstere Szenarien finden 1989/90 Entdeckungsreisende des Westens vor, die im VW-Bus durch den Osten fahren und im Reiseführer Ostdeutschland individuell durch die Noch-DDR zu Trips in die dritte Welt einladen. Entsetzte Schilderungen traurig-grauer, rauchender Ruinenfelder stehen neben Listen zu importierenden Reiseproviants: »Selten nur ein freundlicher Blumenkasten auf den Balkons, in den Schrebergärten ging es mehr ums Gemüse als um Blumen für Augen und Herz. Daß von Häusern der Putz abbröckelt und nackte Ziegel eines der Merkmale dieses Landes sind, hat sich herumgesprochen. Ebenso, daß viele Straßenzüge triste und trostlos sind, daß Löcher und Querrillen auf Bürgersteigen Fußgänger stolpern lassen und in Städten holpriges Kopfsteinpflaster Autos rüttelt. Bei Inversionswetterlagen bleibt der Rauch der noch viel zu vielen Braunkohleöfen in den Straßen hängen [...] Ganze Häuserzeilen sind vom Einsturz bedroht.« Zeitzeichen auch das Othering: Man bedenke aber, der Ostdeutsche hatte es schwer.

Aufschlussreich sind die Entwürfe Dresdens in die Zukunft, wie die hochtrabenden Pläne in Reiseführern der beginnenden 90er Jahre; Pläne, die längst durch den Schredder Dresdner Befindlichkeiten, alternativer Investorenvisionen und Verwerfungen im Stadtsäckel gegangen sind: »Auf dem freien Platz am Ufer elbaufwärts [von der Marienbrücke aus] soll der Neubau des Konzerthauses der Dresdner Philharmonie entstehen. Es folgt der von Hans Erlwein 1913 erbaute monumentale Speicher; unter Denkmalschutz stehend, könnte er Heimstatt der Landesbibliothek werden. Richtung Oper erstreckt sich dann an der Devrientstraße der niedriggehaltene Komplex des 1928 – 31 erbauten ursprünglichen Landesfinanzamts mit einem turmartig erhöhten Eingangsblock. Das Gebäude dient jetzt dem Sächsischen Landtag. An der Stelle des kriegszerstörten Elbflügels entsteht ein Plenarsaal des Ex-Dresdner Architekten Peter Kulka (geb. 1937), der bis zur in späteren Jahren erfolgenden historischen Rekonstruktion des Ständehauses am Schloßplatz den Abgeordneten dienen soll. Mit der kulturellen Nutzung und städtebaulichen Veränderung dieses ehemals wirtschaftlichen Gebietes erweitert sich die Dresdner ‚Kulturmeile‘. Sie führt künftig von der Philharmonie an der Marienbrücke elbaufwärts bis zur Albertbrücke mit dem Operettentheater und wird so die Elbuferzone zwischen den Brücken im gesamten Zentrum der Stadt umfassen«, so 1993 der Kunstreiseführer von DuMont.

Die Wiederaufbaupläne lasen sich im Rechenschaftsbericht an die IX. Bezirksdelegiertenkonferenz der SED von 1969 nicht weniger visionär: »Den wachsenden geistig-kulturellen Bedürfnissen und der Förderung der Gesundheit der Bevölkerung dienen solche, den Charakter des Zentrums mitbestimmenden Bauwerke, wie der Kulturpalast, der Wiederaufbau der Semperoper, der Bau des Breitwandkinos an der Prager Straße, des Hauses des Lehrers am südlichen Ring, die Rekonstruktion des Großen Hauses der Staatstheater zum Operettentheater, der Bau eines neuen Schauspielhauses auf dem Platz der Einheit, die Errichtung eines Rehabilitationszentrums mit vielseitigen Einrichtungen der Gesundheitspflege und des Ausgleichssports auf dem Neustädter Elbufer sowie der Bau der Sport- und Kongreßhalle am Fučikplatz mit 8000 Plätzen [...] Als Hauptverkehrsachse vom Westen nach dem Osten der Stadt wird eine Untergrund-Schnellbahn errichtet [...]« So schrieb Genosse Werner Krolikowski, in Dresden 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED, in der Sächsischen Zeitung. Vielleicht die Hälfte war verwirklicht.

Dem heute dominierenden Selbstverständnis Dresdens als Kunst- und Kulturmetropole entsprechend rückt in aktuellen Reiseführern der kultur- und baugeschichtliche Aspekt der Stadtgeschichte noch stärker in den Vordergrund. Gleichzeitig ist es dieser Nimbus, der der Stadt mitunter auch im Wege steht. Die Pflege dieses konservativen Rufes, der sich auf die traditionellen Säulen wie Semperoper, Kreuzchor oder die Kunstsammlungen stützt, begräbt unter sich schon allein der abfließenden städtischen Finanzströme wegen das zeitgenössische Potential alternativer Jugend- und Kulturarbeit. In den Fluten des busseweise ins Altstadtzentrum geleiteten »Silbersees« graumelierter Rentnerscharen ertrinken die zarten Pflänzchen nicht-etablierten Engagements.

Man müsste die Reiseführer unterschiedlicher Länder zu unterschiedlichen Zeiten für dieselbe beliebige Stadt vergleichen; und das alles gäbe noch keine Antwort darauf, welche Geschichte sich jenseits der gedruckten Zeugnisse die Oral History erzählt, die buchstäblich erzählte, nie aufgeschriebene Geschichte der mit ihr untergegangenen »einfachen Leute« – ohne Rücksicht auf ein jeweils verordnetes Geschichtsbild zwischen »unaufhaltbarem technischen Fortschritt dank des Fünfjahresplans« und dem heutigen Mantra des »unsagbar schönen wiederauferstandenen Elbflorenz’ August des Starken«.

Wie vermint das erzählerische Gelände ist, erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick. In dem nach der Methode seines Echolot-Projektes zusammengestellten Dresden-Buch Der rote Hahn tappt Walter Kempowski in eine zwielichtige Falle. Das Buch versammelt Tagebuchaufzeichnungen, historische Dokumente, Briefe und Erinnerungen, Fragmente aller Art, die aus der Sicht Beteiligter das Geschehen in und um die Stadt vom 13. bis 17. Februar 1945 schildern. Zu den interessantesten Passagen gehören Auszüge aus den Funkprotokollen beteiligter britischer Bomber, ferner viele kurze Schilderungen von namenlosen Dresdnern aus dem Feuersturm. Erst nach mehrmaligem Blättern in zwei aufeinander verweisenden Registern findet sich die Quelle David Irving. Der Brite schrieb als 25-Jähriger ein weltberühmtes Buch über die Zerstörung Dresdens, welches in den 60er Jahren erschien und auch in Kurt Vonneguts Schlachthof 5 Erwähnung findet. Dem sind die bedauerlicherweise nicht näher gekennzeichneten Passagen entnommen. 40 Jahre nach Erscheinen des Irving-Bestsellers ist der Autor zum prominenten Holocaust-Leugner avanciert, der in Deutschland und Österreich Einreiseverbot hat, in letzterem sogar dafür im Gefängnis saß. Er wird von Neonazis hofiert und kam vor einiger Zeit indirekt über den ansonsten völlig unverdächtigen Rolf Hochhuth wieder in die Schlagzeilen, als dieser in einem Interview ausgerechnet in der Jungen Freiheit seinen langjährigen persönlichen Bekannten gegen kompromittierende Anwürfe mit drastischen Worten in Schutz nahm. Erst der folgende Sturm der Entrüstung zwang Hochhuth nach einigen Tagen zur Umkehr mit der – in der Öffentlichkeit wenig geglaubten – Entschuldigung, von Irvings Verirrungen der letzten Jahre nichts gewusst zu haben. Auch Kempowski hat Irving in sein erst 2001 erschienenes Kompendium völlig unkritisch übernommen.

Die gebaute Stadt

Vor den Erzählungen der Stadt steht ihre konkrete Manifestation, ihre sinnlich wahrnehmbare Materialität. Für den Durchreisenden, der zufällig in eine fremde Stadt gerät, zählt nur das steinerne Reale. Den typischen Touristen locken schon die Mythen, die erzählte Stadt: In Japan beispielsweise kennt man das Paris-Syndrom, den depressiven Zustand der Enttäuschung, der japanische Touristen nach dem Paris-Besuch befällt, weil die vorgefundene Realität dem vorauseilenden Mythos nicht standgehalten hat.

Für ein Kind, das in einer Stadt geboren wird und in ihr aufwächst, verbinden sich ihre Materialisationen mit der eigenen biographischen Erzählung. Aufwachsen heißt, einen Gesichtskreis kontinuierlich um sich zu erweitern, es ist die stetig sich verschiebende Entgrenzung, eine aus der Bewegung sich ergebende Horizonterweiterung vom Kinderzimmer durch die Stadt. Man sammelt Bilder auf. Die Gegenstände sind bedeutend, besonders solche, die es später kaum noch gibt, wodurch sie zu Symbolen werden: Handkaffeemühle, Kinderspielzeug, Pendeluhr. In der postmodernen, virtualisierten Gegenwart tritt nun das Zeichenreservoir der Fernseh- und Computerwelt hinzu, aus denen patchworkend Identität und Zugehörigkeit erwächst. Der aufgelesene Bildervorrat aus Bedeutung und Bedeutendem, Wegmarkierungen der Erinnerung, steckt uns das Sicherheitsgefühl der Kindheit ab. Flohmärkte sind die Umschlagplätze der Erinnerung, auf denen man verbummelte Kinderbücher, Puppen, Lampenschirme, auch den Amiga wieder zusammensammeln kann. Der Dresdner Flohmarkt: samstags, Käthe-Kollwitz-Ufer.

Ähnlich verhält es sich, zumal in Dresden, mit den Erscheinungen der Häuser. Regionale Räume sind Projektionsflächen eines Heimatgefühls, weil sie durch die Kenntnis, wie was aussieht, wo sich was befindet und was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, den Einzelnen mit einem hohen Maß an Handlungssicherheit ausstatten. Eingeübte Routinen und Erfahrungen erweitern die an den Körper gebundene Positionalität des Menschen auf den ihn umgebenden Raum. Die individuellen, kollektiven, kulturellen Erinnerungen, die vertrauten Elemente einer Stadt, ihre Gebäude und die an ihnen identifizierbaren Zeichen und Symbole, vor allem ihre faktischen Interventionen in die Bewegungen der Körper sind die Bausteine einer aus dem konkreten Ort gerinnenden Identität.

Der Ort, als Landschaft, Ansicht, als ein zum Image, Icon gewordenes, sinnlich wahrgenommenes Konkretum, wird in der Stadt notwendig meist durch Bauwerke und durch ihr Arrangement bestimmt. Nicht nur, dass man ein Gebäude sehen kann, gegebenenfalls ertasten – seine Ästhetik erzeugt Reize, es begrenzt den Horizont. Die Bauten schaffen geographische Tatsachen, die auf den Körper Einfluss nehmen, der auf sie reagieren, sie umschreiten muss. In ihrer planvollen oder zufälligen Komposition und mit ihrer Funktion lenken sie den einzelnen Körper und die Ströme der Massen, die wiederum als solche selbst auf das Individuum zurückwirken. Es gibt Zonen der Konzentration, des Staus, des Flusses, der Transformation und des bloßen Transits, die wiederum Gerüche, Ängste, ästhetische, auch taktile Erfahrungen bewirken.

Die Anlage der Stadt ergibt sich auch aus den in ihr jeweils vorherrschenden Transportmitteln. Die Verhältnisse der Stadtteile und Bauten zueinander sind deren Werk. Sie legen Dimensionen fest und ordnen die Funktionsbereiche an. Für mittelalterliche deutsche Städte spielt das Pferdefuhrwerk eine Rolle. Mit Venedig verbindet man den Kahn, mit Amsterdam das Fahrrad. Neuzeitliche Großstädte sind den Bedingungen der industriellen Moderne entsprechend durch ihre Autostraßen strukturiert; die, die entscheidende Entwicklungsphasen ab den 1950ern erfuhren, wurden programmgemäß ganz zu Autostädten. Manches überlagert sich, alte Städte werden umorganisiert, neuen Anforderungen angepasst. Moskau bekam 1935 eine U-Bahn und wuchs fortan in Relation zu ihr.

Die Relationen prägen die Wahrnehmung des Raumes, ordnen dem Menschen in ihm eine Rolle zu, markieren einen spezifischen, ihm zugewiesenen Ort. Die geistige Landkarte, das »Bild« des Raumes, formt sich nach Art der Bewegung in ihm. Die Transportwege (U-Bahn-Tunnel, Highways) werden zu Wurmlöchern zwischen materialisierten Inseln, die sich erst im Kopf zu einer Stadt zusammensetzen. Geistiger Stadtplan und tatsächliche geographische Manifestation treten auseinander, was man erst mitbekommt, wenn man sich in der falschen Stadt im falschen Verkehrsmittel befindet oder als Fußgänger in den fluiden Zonen zwischen den Inseln einer Autostadt gestrandet ist.

Die Wahrnehmungen sind wandelbar. So wie sich Sehgewohnheiten an Schnittfolgen von Musikvideos anpassen können, gewöhnt man sich daran, eine Kutschenstadt im Auto zu durchqueren, oder auf dem Fahrrad. Es kann auch ein Vergnügen sein, die zur Normalität gewordenen Geschwindigkeiten auf ihr ursprüngliches Verhältnis zum umbauten Raum zu drosseln, wie es die Touristendroschken in historischen Innenstädten tun, oder der Spaziergänger, dessen Methode auf ganz andere – Freizeit verheißende – gesellschaftliche Entwicklungen verweist und der hernach bei Walter Benjamin zum Flaneur wird und bei Guy Debord zum Drifter.

Für viele Städte in Europa hat die »Elektrische« eine prägende Bedeutung. In Dresden folgte einem ersten Pferdebusbetrieb von 1838 und der ersten Pferdebahnlinie von 1872 im Jahre 1893 die erste elektrische Straßenbahn zwischen Schloss- und Schillerplatz.

Vermutlich ist die Nachkriegsstadt Dresden ein Resultat der Tatra-Straßenbahn (ab 1967, 55-65 km/h, 176 kW, Tschechoslowakei).

Aus: Ausgabe 1 – Zeitschrift für Weltverdopplungsstrategien, erste Ausgabe »Die Stadt«, Leipzig 2009; Gesellschaftsmagazin zu Politik, Wissenschaft und Kunst – Reportagen, Essays, Interviews, Fotografie, Illustration, Graphic Novel – www.ausgabe1.de